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Die Alten von Kensington

14,90 

Erzählungen aus dem letzten Lebensabschnitt.

Kategorie:

Über das Leben im Alter

„Eine alte Liebe zur Insel, immer schon …“
So beginnt Luise von Tiedemann ihre anrührenden Porträts alter Menschen, die sie im England der 70er Jahre, zuhause als „Home Help“ betreut hat. Sie erzählt die Lebensgeschichten ihrer Pfleglinge, von deren Erlebnissen in der europäischen Weltgeschichte und zugleich ihre eigenen schönen und traurigen Erfahrungen als „Home Help“ im Londoner Stadtteil Kensington: „Immer schon war ich an Menschen und ihren Geschicken interessiert und wie sie in ihren eigenen vier Wänden lebten. Indem ich ihren Geschichten auf der Fährte war, erlebte ich selber meine eigenen und fing an, sie aufzuschreiben.“

Dabei ist ein poetisches Kleinod entstanden. Wie wertvolle Perlen auf eine Kette, fädelt Luise von Tiedemann die Geschichten der »Alten von Kensington« auf – behutsam und rücksichtsvoll, stets die Eigenheiten der alten Menschen tolerierend. Und jede einzelne ist umgeben von einem warmen Schimmer der Mitmenschlichkeit, des Respekts vor dem Alter und dem Leben an sich: „Wir haben das Leben auf dieser Erde gekriegt“, sagte die alte Daisy „und jetzt müssen wir es eben ausleben.“

ISBN: 978-3-934983-26-7
160 Seiten, Harcover, Lesebändchen

 


LESEPROBE

Mrs. Parslow
Good night, Mr. Johnson

Je älter sie wurde, desto mehr wuchs Mrs. Parslow mit dem Haus zusammen, in dem sie seit unzähligen Jahren wohnte. Sie war, als ich zu ihr kam, sechsundneunzig, und ihr Nachbar und Freund, Mr. Johnson, wahrscheinlich noch älter.
Dieses Haus bestand aus zwei Hälften. Es ragte als ein alter gelber Doppelzahn aus einer Abbruchhalde zwischen Schutt, Gestrüpp und Unrat heraus und war beim Abriss des Gebäudekomplexes neben einer Hauptverkehrsader nur deshalb verschont worden, weil die beiden alten Leute nicht heraus gekündigt werden konnten.
In der linken Hälfte bewohnte Mrs. Parslow die erste Etage. Die beiden Frontfenster, die die gesamte Breite des Hauses ausmachten, gehörten zu ihrem Wohnzimmer. Im Parterre befand sich eine Art Laden, eine Vertriebsstelle für Gasöfen. Ich habe dort nie einen Menschen gesehen. Im zweiten, obersten Stock lebten „irgendwelche Leute“ wie Mrs. Parslow sich ausdrückte. Sie wollte nichts mit ihnen zu tun haben, also kümmerten sie sich auch nicht um sie.

Auf der gleichen Seite, im rechten Nachbarhaus wohnte Mr. Johnson, ebenfalls im ersten Stock. Darunter lag, angrenzend an die verwaisten Gasöfen, ein Büro, und auch dieses wurde nie benutzt: Milchglas verbarg das Innenleben einer Geister-Company. Und oben hausten Leute: Manchmal brannte Licht. Lange kannten sich die beiden schon, alle zwei waren schon lange verwitwet.
Nun hatte Mr. Johnson ein schweres chronisches Nierenleiden und Mrs. Parslow Arthrose, also konnten sie sich nicht mehr gegenseitig besuchen – eine Treppe hinunter und drüben wieder eine hinauf, das war zu viel. Mrs. Parslow, die kein Telefon hatte, war nur durch eine alte tapprige Freundin mit der Außenwelt verbunden, die ab und zu mal vorbei kam.
Wir Helferinnen kauften für sie ein und schauten nach dem Rechten, alles andere erledigte sie noch selbst und das sehr akkurat. Wichtig war immer, dass ihr jemand zuhörte. In ihrem kleinen Vogelgesicht funkelten die hellen Augen vor Vergnügen, wenn sie ihre Geschichten erzählte. Nach kurzer Zeit kannte ich alle ihre Familienverhältnisse und auch die von Mr. Johnson. Er wurde von zwei Neffen und deren Frauen aufs Beste versorgt, hatte ihnen sein Geschäft vererbt und ertrug, wie man Mrs. Parslow berichtet hatte, seine Leiden mit größter Geduld. Ein wunderbarer Mensch, fand sie.

Als vertraue sie mir ein Geheimnis an, sagte sie flüsternd: „Wissen Sie, jeden Abend, so gegen sieben Uhr, setze ich mich hier ganz nah an die Wand – und dann, wenn meine Uhr die volle Stunde schlägt, klopfe ich ihm! Mit der Faust, manchmal auch stärker, mit dem Briefbeschwerer. Ich klopfe und rufe ganz laut: „Good night, Mister Johnson!“ Und dann, was glauben Sie, dann klopft er wahrhaftig zurück! Seine Stimme ist ja wohl nicht mehr so gut, ich kann nicht hören, was er sagt, aber das Klopfen, jawohl, das höre ich gut!“
„Klopft er denn auch manchmal zuerst?“
„„Nein, ach nein! Ich fange an. Er wartet ja drauf.“